Ein leeres Zimmer. Ein fremder Raum. Eine Frau erwacht – ohne Erinnerung, ohne Richtung. Nur zwei Engel stehen an ihrer Seite, die ihr eine Wahrheit offenbaren, die gleichermaßen faszinierend wie furchterregend klingt: Sie ist die Anführerin eines Kultes. Ein Kult, dessen Ziel nicht weniger ist als das Ende der Menschheit.
So beginnt Shuten Order. Was zunächst wie ein surreales Traumspiel wirkt, entfaltet sich schon bald als ein vielschichtiges narratives Abenteuer, das seine Spieler in einen Strudel aus Erinnerung, Verrat und Vergänglichkeit zieht. Der Kult wächst, Anhänger strömen zusammen, ein Staat formt sich. Jubel, Feier, die Vision scheint Gestalt anzunehmen – doch im nächsten Augenblick bricht alles zusammen. Die Anführerin wird ermordet, erwacht erneut in jenem kalten Raum – und diesmal mit einem schrecklichen Makel: Ihre Wiedergeburt ist unvollständig. Die Welt mag noch 168 Tage haben, doch ihr selbst bleiben nur wenige. Wenige Tage, um die Wahrheit zu erkennen, den Mörder zu finden und Rache zu nehmen.
Was Shuten Order so besonders macht, ist der Mut, sich nicht in einem Genre festzusetzen. Was als ruhiges Erzählspiel beginnt, weitet sich Schritt für Schritt zu einem vielgestaltigen Abenteuer aus, das unterschiedliche Mechaniken und Stimmungen kunstvoll miteinander verwebt.

Im Ministry of Security etwa wandelt sich das Spiel in ein Top-Down-Stealth-Horror-Erlebnis. Man schleicht durch düstere Gänge, weicht einem mörderischen Nephilim aus, löst Rätsel und versucht, Manji Fushicho auf die Spur zu kommen. Spannung liegt in jeder Bewegung, Angst in jedem Schatten. Und die Angst, nicht rechtezeitig den Mörder zu entpuppen, steckt weiterhin tief in den Knochen.

Das Ministry of Justice schlägt eine andere Richtung ein. Hier gilt es, ein Familiendrama, ein Mord innerhalb der Familie Kukuri zu durchdringen, während Kishiru Inugami als Verdächtiger im Zentrum steht. Was sich entfaltet, ist ein klassisches Mystery-Adventure, getragen von Dialogen, Hinweisen und dem stetigen Gefühl, einem düsteren Geheimnis auf den Fersen zu sein.

Im Ministry of Science wiederum schaltet das Spiel in eine multi-perspektivische Visual Novel. Eine Terrorattacke zwingt die Spieler, zwischen Charakteren zu wechseln, um sie zu retten – jede Entscheidung, jeder Blickwinkel offenbart ein neues Stück der Wahrheit rund um Teko Ion. Hier entfaltet sich erzählerische Tiefe, die weit über Genregrenzen hinausgeht.
Das Ministry of Education bietet schließlich einen überraschenden Kontrast. Ein Romance Adventure, in dem die Protagonistin Beziehungen zu drei Frauen aufbaut, um mehr über Honoka Kokushikan zu erfahren.

Und schließlich das Ministry of Health. Hier wartet Yugen Ushitora als Verdächtiger – und mit ihm ein tödlicher Escape Room. Jeder Schritt, jedes Rätsel kann über Leben und Tod entscheiden. Hier kulminiert die Spannung erneut, dicht, klaustrophobisch und erbarmungslos.
Egal, welchen Pfad man beschreitet: Shuten Order fühlt sich nie wie ein bloßes Experiment an. Jede Episode wirkt wie ein vollwertiges Spiel, mit eigenen Höhepunkten, eigenen Dramaturgien. Gemeinsam bilden sie ein Mosaik, das die Welt von Shuten, ihre Engel und Dämonen, ihre Geheimnisse und Abgründe mit jeder Stunde greifbarer macht.
Auf der Nintendo Switch 2 zeigt sich das Spiel von seiner besten Seite. Flüssige Bildrate, kurze Ladezeiten, klare Optik – ob im Docked- oder im Handheld-Modus, die Präsentation ist stets stimmig. Shuten Order ist kein Action-Kracher, kein Adrenalinfeuerwerk, sondern ein mysteriöses, ruhiges und zugleich zutiefst dramatisches Erlebnis. Ein Spiel, das mit seiner Vielseitigkeit überrascht, mit seiner Erzählung fesselt und mit seiner Stimmung lange nachhallt.
Fazit
Shuten Order ist ein Kaleidoskop aus Spielmechaniken und Emotionen. Es beginnt als Rätsel, entfaltet sich als Drama und endet als epische Suche nach Wahrheit und Vergeltung. Es ist nicht laut, nicht effektheischend – aber es ist intensiv, vielschichtig und unvergesslich. Wer Geduld für ruhige Erzählungen mitbringt und sich auf die Mischung aus Mystery, Stealth, Romance und Horror einlässt, entdeckt hier eines der ungewöhnlichsten Spiele seiner Zeit.