Schon im Hauptmenü deutet sich an, dass The Necromancer’s Tale kein gewöhnliches Rollenspiel ist. Statt sofort in die Welt geworfen zu werden, sitzt du vor einem alten, gebundenen Buch – kein Charaktereditor mit Reglern und Statleisten, sondern eine Erzählung deiner Herkunft, aufgeschlagen vor dir. Du liest, entscheidest, lenkst deine Biografie: Warst du Kind einer Adelsfamilie mit Sinn für Diplomatie oder eher mit militärischem Drill? Jede Entscheidung beeinflusst diskret deine Attribute – ohne Zahlensalat oder direkte Anzeige. Erst wenn du die letzten Seiten des Prologs umgeblättert hast, erkennst du, wie du geworden bist. Und solltest du unzufrieden sein mit dem, was aus dir geworden ist – kein Problem. Das Spiel erlaubt dir eine finale Korrektur. Selten fühlte sich Charaktererstellung so sehr nach einem erzählerischen Prozess an, nicht nach einem trockenen Systemmenü.
Und dann beginnt es: Du kommst in deiner Heimatstadt an – einem nebligen, steinernen Ort an einer windgepeitschten Küste. Die Stadt wirkt wie aus der Zeit gefallen, durchdrungen von Trauer, Aberglauben und ständiger Wachsamkeit. Du bist hergekommen, um der Beerdigung deines Vaters beizuwohnen – Zelig van Elstrik, einst eine respektierte Persönlichkeit. Doch noch bevor du richtig angekommen bist, wird dir bereits mitgeteilt, dass der Tote bereits begraben wurde. Einfach so. Angeblich habe er sich zu Tode gesoffen. Etwas stimmt hier ganz und gar nicht. Deine Mutter scheint kaum ansprechbar – in sich gekehrt, verwirrt, verloren in der Vergangenheit. Der treue Familienbutler Albrecht bemüht sich, ihr mit alchemistischen Tinkturen zu helfen, aber er kommt nicht weiter. Und dann findest du es – ein Buch, das sich seltsam anfühlt, fremdartig, beinahe lebendig. In es sind Zeichen geritzt, die du nicht verstehst. Noch nicht.

Was folgt, ist eine der intensivsten, immersivsten RPG-Erfahrungen, die ich seit langem hatte. Denn The Necromancer’s Tale ist kein Spiel, das dich einfach mit Zaubern, Kämpfen und Beute konfrontiert. Es erzählt dir eine Geschichte. Eine Geschichte, in der du selbst der Erzähler bist – aber auch derjenige, der für seine Worte gerade stehen muss.
Durch ein weiteres Fundstück – ein Übersetzungsbuch – beginnst du die fremde Sprache der Toten zu entschlüsseln. Stück für Stück lernst du erste Rituale: kleine Zauber, obskure Zeichen, makabere Handlungen. Doch das Spiel gibt dir nichts davon einfach so. Jedes neue Ritual muss verdient werden. Es reicht nicht, einen Gegner zu besiegen oder einen Händler zu bezahlen. Du musst Menschen kennenlernen. Ihre Probleme lösen. Ihr Vertrauen gewinnen. Nur wer sich mit den über 150 einzigartigen NPCs befasst, ihre Geschichten versteht, ihre Sorgen hört und hilft, der kommt voran. Das Spiel kaut dir dein Spiel nicht vor, du selbst hast die Zügel in der Hand. Du musst etwas brauen? Dafür brauchst du keinen Questmarker! Geh in die Küche, schnapp dir einen Kochtopf, einen Löffel zum Umrühren und befolge die Anweisungen.
Dabei entwickelt sich eine Welt, die durchdachter und dichter wirkt als in den meisten großen Produktionen. Jeder Charakter scheint eine Vergangenheit zu haben, Ziele, Ängste. Du führst Gespräche, die sich nicht nach Stichwort-Klickerei anfühlen, sondern nach echten Begegnungen. Die Dialoge sind tief und oft poetisch, laden zum Nachfragen ein. Anfangs wirken sie noch ein wenig sperrig, fast wie ein Stück Literatur, das du erst lernen musst zu lesen. Doch schon bald entfaltet sich ein Sprachgefühl, das dich in seinen Bann zieht. Es erinnert an Disco Elysium, ohne es zu kopieren – atmosphärisch, dicht, mit einem Hang zum Düsteren.

Dabei ist es nicht nur der Dialog, der Tiefe erzeugt – sondern auch das, was das Spiel daraus macht. Denn es merkt sich, wie du dich verhältst. Du wirst nicht einfach mit „Gut“- oder „Böse“-Markierungen abgespeist. Vielmehr spiegelt dir die Welt ihre Meinung über dich. Deine Entscheidungen verändern Beziehungen, öffnen oder schließen Wege. Wählst du einen Lehrerberuf, entsteht eine ganze Storyline rund um einen Schüler, dessen Schicksal du beeinflussen kannst. Arbeitest du in einer Bar, entdeckst du eine ganz andere Welt – eine mit Gaunern, Gesindel, Geheimnissen. Oder du verdingst dich an den Docks – und wirst Teil eines größeren Netzwerks. Nichts wirkt wie eine reine Nebenquest. Alles ist miteinander verwoben, alles reagiert auf deine Handlungen.
Hinzu kommt die ständige Präsenz der Nekromantie – jener dunklen Kunst, die die Welt von Marns in Angst und Schrecken versetzt. Nach den Nekromantenkriegen traut man keinem Leichnam mehr. Der Tod ist kein Ende, sondern ein Risiko. Wer stirbt, kann zurückkehren. Oder schlimmer: von anderen zurückgeholt werden. Es liegt an dir, wie du mit dieser Macht umgehst. Wirst du ein dunkler Herr über Knochenarmeen? Ein Gelehrter, der dem Tod seine Geheimnisse entreißt? Oder jemand, der versucht, all das aufzuhalten? Oder geht es vielleicht um etwas ganz anderes? Das Spiel lässt dir viel Raum für Spekulationen und es liegt an dir, herauszufinden, wohin dein Weg dich führt.

Technisch ist das Spiel dabei zurückhaltend, aber stimmig. Die Grafik setzt auf einen aquarellartigen Stil, der in den Optionen angepasst werden kann – je nachdem, wie stark du diesen Look wünschst. Die Figuren sind zwar klein und die Umgebungen schlicht, doch nie lieblos. Alles wirkt, als sei es mit Bedacht gemalt. Das Spiel läuft flüssig, auch auf schwächeren Systemen, was angesichts der komplexen Dialogsysteme und vielen simultanen Hintergrundprozesse bemerkenswert ist.

Die Kämpfe hingegen sind der einzige Punkt, an dem das Spiel schwächelt. Sie sind rundenbasiert und taktisch, funktionieren gut – aber fühlen sich im Vergleich zur erzählerischen Tiefe etwas hölzern an. Gerade zu Beginn wirken sie fast überflüssig, als müsse das Spiel doch noch irgendeine Form von mechanischem Widerstand bieten. Erst mit fortgeschrittener Spielzeit, wenn du mehr Begleiter, mächtigere Zauber und strategische Möglichkeiten bekommst, gewinnen sie an Spannung. Sie reißen das Spiel nicht herunter, wirken aber wie ein Relikt aus einer anderen Designentscheidung. Wer lieber liest als kämpft, kann sich mit dem Storymodus behelfen – eine gute Option.
Das Inventar ist funktional, wenn auch etwas fummelig. Es bietet, was man braucht, aber gerade bei vielen Gegenständen wünscht man sich eine sortierfreundlichere Lösung. Dennoch: Es ist kein Spielbrecher, nur ein kleiner Stolperstein in einem sonst so eleganten Fluss.
Am Ende bleibt der Eindruck eines Spiels, das nicht jedem gefallen wird – aber viele tief beeindrucken könnte. The Necromancer’s Tale verlangt Geduld, Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, sich einzulassen. Wer das tut, erlebt eines der erzählerisch stärksten Rollenspiele der letzten Jahre. Für gerade einmal 23,99 Euro – aktuell sogar noch reduziert – ist es ein kleines Meisterwerk für alle, die sich nach Tiefe, Dunkelheit und echter Entscheidungsfreiheit sehnen. Ein Geheimtipp für alle mit einem Faible für Nekromantie, Dialogkunst und einer Atmosphäre, die so dicht ist, dass man sie fast schneiden kann.
Für diesen Testbericht haben wir vorab ein Muster erhalten.