Mit „La Quimera“ tritt ein neues Studio ins Rampenlicht: Reburn, ein Team, das sich größtenteils aus ehemaligen Entwickler*innen von 4A Games Ukraine zusammensetzt – also jenen Köpfen, die einst die gefeierte „Metro“-Reihe erschufen. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 hat sich die Entwicklerlandschaft dort stark verändert. Viele Studios wurden zerstreut, Projekte eingestellt oder verschoben. Reburn ist ein Produkt dieser Umstände – ein unabhängiges Team, das unter schwierigen Bedingungen ein ambitioniertes Projekt auf die Beine gestellt hat.
„La Quimera“ ist das erste große Lebenszeichen des Studios. Und auch wenn der ursprünglich geplante Release am 25. April 2025 kurzfristig verschoben wurde, startete das Spiel nur wenige Wochen später am 7. Mai in den Early Access auf Steam.
Szenario: Zukunftslateinamerika als Spiegel unserer Gegenwart
La Quimera entführt uns in ein Jahr 2064, das alles andere als verheißungsvoll aussieht. Klassische Nationalstaaten sind zerfallen, das Machtvakuum wurde von Konzernen, paramilitärischen Gruppen und technologischen Eliten gefüllt. Der Schauplatz ist ein futuristisches, fiktives Lateinamerika – eine Wahl, die sich nicht zufällig anfühlt: Die Region steht hier sinnbildlich für eine Welt, in der Hoffnung, Gewalt und digitale Überwachung auf engstem Raum koexistieren.

Als Spieler*in übernehmen wir die Rolle eines kybernetisch aufgerüsteten Söldners, ausgestattet mit einem individualisierbaren Exosuit, fortschrittlicher Bewaffnung und einem KI-Kompanion, der taktische Hinweise gibt und sich sogar in Dialoge einmischt. Die Story wirkt trotz ihrer Science-Fiction-Kulisse erschreckend nahbar – ein Verdienst des kreativen Beraterteams rund um Filmemacher Nicolas Winding Refn, der bereits bei „Drive“ und „Too Old to Die Young“ düstere Charakterstudien ablieferte.
Gunplay trifft Taktik
Mechanisch orientiert sich „La Quimera“ an klassischen Ego-Shootern, lässt sich aber stilistisch kaum in eine Schublade stecken. Statt linearem Leveldesign gibt es semi-offene Areale, in denen mehrere Lösungswege möglich sind. Die Gefechte sind schnell, tödlich und fordern taktisches Vorgehen. Besonders auffällig: Das Sounddesign und die Rückmeldung der Waffen sind hervorragend gelungen – jedes Projektil hat Wucht, jede Explosion Bedeutung.
Hinzu kommen Spezialfähigkeiten, die an Titanfall oder Apex Legends erinnern: per Grapple-Hook aufs Dach, dann mit dem Plasmagewehr ins Getümmel. Dabei läuft jederzeit die KI-Begleitung im Ohr mit – manchmal hilfreich, manchmal nervtötend, oft aber überraschend menschlich.
Koop-Action für drei
Der Koop-Modus ist nicht nur ein Gimmick – er ist zentraler Bestandteil der Spielerfahrung. Bis zu drei Spieler*innen können sich gemeinsam durch die Missionen kämpfen. Dabei wird der Schwierigkeitsgrad dynamisch angepasst. Besonders schön: Die Story-Elemente bleiben auch im Multiplayer erhalten. Zwischensequenzen und Dialoge sind für alle sichtbar, Entscheidungen werden gemeinsam getroffen.

Aktuell umfasst der Early Access fünf Hauptmissionen mit einer Spielzeit von ca. fünf Stunden, dazu kommen kleinere Nebenaufträge und ein Arena-Modus zum Austesten der Waffen und Fähigkeiten. Zwar ist das nicht riesig, aber genug, um sich einen fundierten Eindruck zu verschaffen.
Early Access: Ein erster, starker Schritt
Der Early-Access-Start verläuft erstaunlich stabil. Performance-Probleme sind selten, Abstürze kaum gemeldet. Auch spielerisch macht das Spiel bereits einen runden Eindruck. Dennoch merkt man, dass vieles noch im Aufbau ist: Menüs wirken etwas rudimentär, nicht alle Waffen sind balanciert, und einige Gebiete sehen visuell unfertig aus.
Die Entwickler kommunizieren transparent über ihre Roadmap: Für die nächsten sechs Monate sind neue Story-Kapitel, PvP-Modi, grafische Verbesserungen sowie zusätzliche Lokalisierungen geplant. Ein vollständiger Release ist nicht vor Ende 2026 zu erwarten – bis dahin soll der Preis laut Entwicklerangabe auch schrittweise steigen. Derzeit liegt er bei 29,99 €, was für den gebotenen Inhalt ein fairer Einstieg ist.
Atmosphäre & Ästhetik: Low-Budget trifft Arthouse
Visuell ist La Quimera kein Triple-A-Titel – und das ist auch gut so. Statt Hochglanz setzt Reburn auf stilisierte Düsternis: Graffiti-Wände, flimmernde Neonlichter, leere Straßen, über ihnen Drohnen mit Sirenen. Es erinnert eher an „Disco Elysium trifft Far Cry 2“ als an typische Blockbuster. Auch die Charaktere wirken bewusst roh und ungeschliffen, was der Welt eine glaubhafte Patina verleiht.

Die Zwischensequenzen werden sparsam, aber gezielt eingesetzt. Musik und Voice Acting sind hochwertig, wenn auch derzeit nur auf Englisch mit Untertiteln verfügbar.
Reburn – ein Studio mit Geschichte
Reburn wurde 2023 von ehemaligen Mitgliedern des ukrainischen Zweigs von 4A Games gegründet. Nachdem ein Großteil des Metro-Teams das Land verlassen musste, entschieden sich einige, in der Ukraine zu bleiben und unabhängig weiterzuentwickeln. Der Name „Reburn“ steht dabei sinnbildlich für den Neuanfang nach der Katastrophe.
Die Studioführung betont ihre künstlerische Unabhängigkeit und arbeitet eng mit europäischen sowie lateinamerikanischen Kreativen zusammen – darunter auch Aktivisten und Historiker*innen. Man versteht das Spiel nicht nur als Shooter, sondern als „soziopolitische Simulation mit interaktiven Elementen“ – ein Anspruch, der ambitioniert klingt, im Early Access aber zumindest ansatzweise eingelöst wird.
Fazit: La Quimera hat etwas zu sagen – und trifft dabei oft ins Schwarze
„La Quimera“ ist ein Spiel mit Ecken und Kanten, doch genau das macht seinen Reiz aus. Es versucht nicht, jedem zu gefallen, sondern hat eine klare Vision: Eine dystopische Welt, die zum Nachdenken anregt, in der man sich verlieren – und auch ein wenig wiederfinden kann. Wer nach einem polierten Blockbuster sucht, wird enttäuscht sein. Wer hingegen einen atmosphärisch dichten Shooter mit erzählerischem Anspruch sucht, könnte hier ein neues Highlight entdecken.
Der Early Access ist ein vielversprechender Auftakt. Es bleibt zu hoffen, dass Reburn das Tempo hält und ihre Vision weiter ausbauen kann. Dann könnte aus „La Quimera“ eines der wichtigsten Independent-Projekte der nächsten Jahre werden.